Kant: 
Ist der Verstand der Ursprung der Welt an sich?

Jour-fixe bei Böhler mit dem Philosophen Christian Müller

Kant: 
Aus der Sicht der neuen Ganzheitlichkeit
 

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Bensheim. Die Blickrichtung ändert sich und die Erde der Erfahrungswelt dreht sich um die strahlende Sonne des Verstandes: Der Mensch konstruiert seine Realität. Immanuel Kants kopernikanische Wende stellt den Mensch über sich selbst und die Vernunft allein wird zur Instanz einer metaphysischen Prüfung des Selbst. Seit Kant sind die logischen Ebenen neu gestaffelt und der menschliche Verstand wird zum Ursprung der Welt an sich.

 


Der Königsberger Philosoph des 18. Jahrhunderts hat die Welt aus der epistemologischen "Tabula Rasa" geführt, die auch zweihundert Jahre danach das philosophische Denken bestimmt und grundlegend prägt. Die bedingungslose Leidenschaft des Kantschen Gesamtwerks hat auch den Bensheimer Philosophen Christian Müller nachhaltig beeinflusst.

Anlässlich des 200. Todestages Kants hat Müller die Errungenschaften des prominenten Vordenkers einer kritischen Prüfung unterzogen: Was bleibt von der Kantschen Philosophie und was "sagt" Kant dem postmodernen Menschen des 21. Jahrhunderts? Schwere Kost für die zahlreichen Besucher des 27. Jour-fixe in der Buchhandlung und Galerie Böhler, die am Freitag den Ausführungen eines brillanten Analysten und intimen Kenners lauschen durften.

Lohnender Marsch

Müller wählte den schweren, aber lohnenden Marsch durch die Kantsche Gedankenwelt. Von der "Kritik der reinen Vernunft" bis zur moralphilosophischen Grundsteinlegung, die in der "Kritik der praktischen Vernunft" ihren sittlich begründeten Höhepunkt erreicht. Es herrscht die Frage nach einer allgemein verbindlichen und human-integralen Moral ohne den Umweg über die Konsequenzen des individuellen Handelns. Die These lautet: Erst die Moralität macht den Menschen zu einem Geschöpf, das durch die notwendige Objektivität einer unempirischen Handlungs- und Denkweise zu den höheren Weihen der Glückseligkeit gelangt.





Der Kantsche "kategorische Imperativ" ist intellektuelles Gemeingut inklusive geistiger Ideologiekritik: Erst die Bedingungen der Erfahrungs-Möglichkeiten können als Dienst-Anweisungen zum Gebrauch des Verstandes verstanden werden. Ergo: Kants Grundsatz ist eine Therapie des Verstandes, die der empirischen, also erfahrbaren Welt vorschreibt, wie sie beschaffen ist: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Das Sittengesetz als integraler Bestandteil jedes auf Vernunft basierenden Wesens.

Kein leichtes Procedere

Die Frage nach der moralischen Triebfeder beantwortet Müller als die "reflektiert geistige Achtung vor dem Sittengesetz": einzig die moralische Motivation an und in sich befreit von der pathologischen und führt zu einer von Vernunft geprägten Haltung des Individuums. Das heißt: Das Sittengesetz selbst wird zur Triebfeder der Vernunft und moralisches Handeln ist die logische Folge einer guten Gesinnung.

Das Erkennen der Vernunft-Maßstäbe ist freilich kein leichtes Procedere. "Nur die Kooperation von Sinneseindrücken und Verstand führt zum Ziel", so Christian Müller. Einzig die Autonomie des Willens gilt als Prinzip der moralischen Gesetze und somit der praktischen Vernunft, also der Freiheit. Die Gesinnung, nicht der Zweck bestimmt das vernünftige Wesen a priori, "das Gesetz der Sittlichkeit gebietet, die Maxime der Selbstliebe rät bloß an".

 


Das Motiv, das zur Handlung veranlasst, nicht der Zweck der Handlung, besitzt einen moralischen Wert. Insofern erhebt das moralische Gesetz selbst bereits einen Anspruch auf Allgemeinheit - während beim empirisch bedingten Urteil dieser Anspruch in philosophischem Sinne ad absurdum geführt wird. Müller spricht von "Schablonen, die Begriffe wie Sinnlichkeit und Verstand nur unter vorgeformten Strukturen wahrnehmbar machen.

Laut Kant konstituiert sich Erkenntnis einzig durch die Melange aus Sinnlichkeit und Verstand und ist die finale Glückseligkeit ausschließlich durch die Ehe mit Religion und Gottesglaube verbunden. Moral und Glück werden zu einem untrennbaren Doppel, das nur durch das Postulat Gottes geeinigt wird.

 

Fazit: Die Moral gibt der Existenz einen tieferen Sinn. Immanuel Kants Transzendentalphilosophie ist somit die Grundlage sowohl der modernen Kognitionswissenschaften als auch Ideengeber einer idealisierten politischen Handlungsebene. "Kants Suche nach Erkenntnis nötigt Respekt ab und die Frage nach dem "Wie" macht den wahren Philosophen aus", schließt Christian Müller seinen kleinen Einführungskurs in Kantscher Moralphilosophie.

Oder, in simplizierter Form: Die praktische Vernunft ist das von jeder empirischen Erfahrung unabhängige Vermögen, zu Wollen. Der Wille gibt der Willkür ihr Gesetz, und das Sittengesetz drückt aus, was eine Willkür tun würde, wenn sie ausschließlich rationalen Ursprungs wäre.

 

 



Oder, noch einfacher gesprochen: 
Immanuel Kant ist ein Denker für heute, dessen Erkenntnismatrix eine fortwährende Aktualität innewohnt.
Kants "Kritik" ist eine notwendige Ideologiekritik des menschlichen Geistes. Ihre Negation wäre Denken in seiner fahrlässigsten Ausprägung. Thomas Tritsch

Bensheim. Die Blickrichtung der Menschheit ändert sich vom eigenen Bauchnabel zum 360° Panorama, das alles in seinen beobachtenden Blick nimmt. Alles ist tendenziell gleichwichtig und gleichgewichtig!
Capra und viele namenlose andere haben eine Wendezeit eingeleitet, die in Wirklichkeit ein Projekt für das 21. Jahrhundert ist, wobei Vernunft nur ein Teil davon ist, organisch-kybernetische Netzwerke leiten einen spannenden Harmonisierungsprozess ein, dessen Ende nicht wirklich fest steht. 

Die Tabula Rasa, das "urbiblische Chaos", entwickelt sich entlang des Fraktalitätsprinzips immer wieder neu und polymorph. Wer nur denkt (philosophiert) tut auch das nicht richtig. Die Änderung von Geschichte & Gesellschaft, Kunst, Natur und  Wissenschaft findet durch Interaktivität statt, zu der auch die Technik des Denkens gehört, aber vor allem systemimmanente Technik, die alles im Fluss hält.  








Moral ist heute ein Begriff mit negativer Unterschwingung, weil jede Gesellschaft ihre Moral entlang der Tradition entwickelt, (andere Länder, andere Sitten) und mit bestem Wissen und Gewissen missbraucht.
Moralität entsteht im Diskurs von politischen und wirtschaftlichen Interessen wobei die Vernunft (Zukunftsperspektive) oft unter die Räder kommt. Jeder ist ein Opfer seiner  Sozialisation, aber die Menschen haben die Freiheit gegen ihre Sozialisation anzugehen, der Preis dafür ist jedoch die Arbeit (der Widerstand) und  der Gewinn ist der Erfolg (der Fluss). Es ist sowohl ein Prozess der Bewusstseinsbildung, als auch die Sucht nach der Befriedigung unterschiedlichster Bedürfnisse. Die Frage heißt: "Darf´s ein bisschen mehr sein ?" - der dynamisch - genießerische Kompromiss zwischen "alles und zwar sofort" und der völligen Selbstmissachtung.


Hier klingt Kant geradezu modern! Das ist gelinde gesagt die Nährboden-Theorie (Die kosmische Welle: Kapitel "Evolution").
Was bei Kant zu einer GUT-Sicht und Sittlichkeit durch  Denkgymnastik wird, lässt sich durchaus auch ohne große Nachdenklichkeit erreichen.  Wer einen guten Tanz auf der Weltbühne vorführen möchte, sollte sogar eher weniger nachdenken. Die entscheidende Frage heute ist - wer - wann - wie - wo - die Weichen stellt und wer - wann - wie - wobei mitbestimmen darf.        


Ursächlich für "moralisches Handeln" ist die reflektierte Neugier und das Umfeld des Menschen und deren Wechselwirkungen. 
In hyperkomplexen Systemen und Netzen reicht gut gemeint noch nicht, auch nicht wenn es als justiziables Gesetz formuliert sein sollte. Der Schmetterlingseffekt wirkt unauffällig aber konstant, gegen diese Labilität kämpft die Ratio mit oder ohne gute Gesinnung wiederholt auf verlorenem Posten.  


Kooperation hat heute ein ständig steigende Bedeutung und noch entscheidendere Folgen. Kooperation bzw. Non-Kooperation auf allen Ebenen und in allen Dimensionen generieren die Wege und die Ziele. Die "Freiheit kann in tausend Löcher fallen". Die Einstellung zu den Dingen generiert sich aus dem permutativen Mix von entweder - oder, sowohl - als auch - und dem unwägbaren vielleicht. Gesinnung ist immer ein Grauzonenfeld, das außerdem invertierbar ist. 


Sollte Kant ernsthaft einen absoluten Anspruch (s)eines moralischen Gesetzes gemeint haben, ist das aus heutiger Sicht sein staubigster Punkt, die Relativität lässt grüßen. 

 


Natürlich: Der Mix machts!

Süchtige und Abhängige aller Couleur belegen, dass letztlich jedwede Moral den Weg zum individuellen Glück weisen kann, das ohnedies nicht konservierbar ist und deshalb nur ein Pseudo-Glück sein kann.  (vgl. Die kosmische Welle: Kapitel "Nexial").


Möglich - doch was ist tief ? 
Seit Popper sind wir alle
auch Philosophen/Innen, damit kann heute jede und jeder zum Ideegeber  politischer Ideale werden für 1 Tag, 1 Jahr, 12 Jahre, 1000 Jahre ? Meme haben selbsterhaltenden Charakter....    




Alles hängt mit Allem zusammen. Alles ist in Allem enthalten, die Fraktalität der Dinge legt dies zumindest für unser Weltall nahe. Damit gibt es nichts wirklich Unabhängiges. Praxis gebiert Erfahrung und die wird Praxis, die in Erfahrung mündet um in der Praxis ... 
Oder in kosmischen Maßstäben formuliert: Wir scheinen mit einer
Symmetrie (Rationalität)  der Asymmetrie (Irrationalität) konfrontiert zu sein, deren paradoxes  Wesen (Prinzip) die Symmetrie (Rationalität) ist.       


Immanuel Kants Philosophie liefert der    Erkenntnismatrix 2000 immer noch philosophische Vitamine und Aufbaustoffe.
Die Kritik an Kants "Kritik" ist logischerweise eine notwendige Ideologiekritik des menschlichen Geistes. Wie überhaupt die Kritik der Kritik an der Kritik über die Kritik um der Kritik willen konstruktiv ist auch wenn sie temporär destruktiv daherkommt.

Sie haben das alles nicht verstanden - machen sie sich nichts daraus.
Alle Philosophen - also du und ich - leiden unter dem gleichen Dilemma:

Je einfacher wir versuchen die Welt zu erklären,
desto unverständlicher werden die Begrifflichkeiten,
mit denen wir hantieren.

e.e 2004

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